Reichweite und Grenzen der Religionsfreiheit
Die FDP Hessen bekennt sich zur positiven und negativen Religionsfreiheit. Diese findet je-doch ihre Schranken in den anderen, vom Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ge-schützten Grundrechten und der verfassungsmäßigen Rechtsordnung. Das Grundrecht der Religionsfreiheit darf nicht dazu missbraucht werden, andere garantierte Grundrechte einzu-schränken oder zu beseitigen.
Positive Religionsfreiheit beinhaltet zunächst die persönliche Glaubensfreiheit im Sinne einer Glaubenswahlfreiheit, einschließlich der Freiheit des Glaubenswechsels. Zur positiven Religi-onsfreiheit gehört aber auch die Freiheit eines Menschen, eine Religionsgemeinschaft zu grün-den oder sich ihr anzuschließen sowie an ihren Veranstaltungen teilzunehmen.
Negative Religionsfreiheit beinhaltet das Recht auf persönliche Lebensgestaltung ohne Zuge-hörigkeit zu einer Religion oder Religionsgemeinschaft und ohne die Ausübung von religiösen Praktiken. Dazu gehört auch die Freiheit eines Menschen, eine Religion nicht mehr auszuüben oder eine Religionsgemeinschaft verlassen zu können. Erfasst ist auch der Anspruch, nicht zu einer Teilnahme an kultischen Handlungen, Feierlichkeiten oder sonstigen religiösen Praktiken gezwungen oder genötigt zu werden, einschließlich des Rechts, Eidesformeln in einer religiös bzw. weltanschaulich neutralen Form abzulegen. Die negative Religionsfreiheit umfasst wei-terhin das Recht, die eigenen persönlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen nicht offenbaren zu müssen.
Die hessische FDP bekennt sich zur Trennung von Religion und Staat. Dabei ist sich die hessi-sche FDP sehr wohl bewusst, dass die durch das Grundgesetz garantierten Grundrechte und unsere verfassungsmäßige Grundordnung insgesamt auf Werten beruhen, die sowohl auf reli-giösen, insbesondere jüdisch-christlichen, als auch auf sonstigen weltanschaulichen Werten wie denen der Aufklärung und der Arbeiterbewegung fußen. Auch ist der Grundrechtskata-log des Grundgesetzes geprägt von den bitteren Erfahrungen des nationalsozialistischen Un-rechtsregimes. In diesem Sinne ist die Bundesrepublik Deutschland kein weltanschaulich neutraler Staat, sondern die Grundordnung unseres Staates und unserer Gesellschaft basiert auf einer Weltanschauung und setzt diese schlichtweg voraus.
Gleichwohl besteht in der Bundesrepublik Deutschland keine Staatsreligion, Staatsphilosophie oder Staatsideologie; der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat verhält sich gegenüber Religionen, Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften neutral.
Viele Religionsgemeinschaften vertreten einen Absolutheitsanspruch ihrer eigenen Religion. Dies bedeutet, dass sie Grundelemente ihrer Glaubensüberzeugung und Glaubensausübung für so wesentlich für den von ihnen aufgezeigten Heilsweg erachten, dass dies die Anerken-nung von in anderen Religionen aufgezeigten Heilswegen ausschließt. Begründet wird dies damit, dass zentrale Elemente der Glaubensüberzeugungen und der Glaubensausübung der eigenen Religion sich in diesen anderen Religionen nicht wiederfinden. Beispielhaft genannt seien hier die Unverzichtbarkeit des Kreuzestodes und der Auferstehung Jesu Christi als Sohn Gottes für die Vergebung der Sünden des Menschen im Christentum und die Anerkennung Mohammeds als Prophet sowie die Unterwerfung unter den Willen Allahs im Islam genannt. Genannt sei als Beispiel aber auch das Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche als einzige legitime christliche Kirche, außerhalb derer es für Menschen grundsätzlich kein Heil gibt.
Ein solcher Absolutheitsanspruch einer Religion kann ein Problem für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft darstellen, muss es aber nicht. In seiner freiheitlichen Ausprägung („freiheitlicher Absolutheitsanspruch“) lässt der Absolutheitsanspruch einer Religion Anders-denkenden und Andersgläubigen das Recht auf die Ausübung ihres Glaubens und ihres ande-ren Lebensstils. Sie bejaht auch den verfassungsrechtlichen Schutz dieser Freiheit der An-dersdenkenden und Andersgläubigen.
Von diesem „freiheitlichen Absolutheitsanspruch“ zu unterscheiden ist ein Absolutheitsan-spruch totalitärer Ausprägung („totalitärer Absolutheitsanspruch“). Totalitäre Ausprägung bedeutet, dass ein solcher Absolutheitsanspruch gesetzliche Regelungen und gesellschaftlich verbindliche Normen durchsetzen will, an die sich jede Person, gleich welchen Glaubens oder welcher Lebensphilosophie, zwingend zu halten hat. Für den Fall der Nichtbeachtung werden Strafverfolgung und gesellschaftliche Ächtung angedroht. Ein „totalitärer Absolutheitsan-spruch“ duldet auch keine andere Religion oder Weltanschauung bzw. beschneidet deren Rechte zumindest ganz elementar. Religionen mit einem „totalitären Absolutheitsanspruch“ ist immanent, dass ihre Anhänger keine Trennung zwischen Religion, Staat und Gesellschaft an-erkennen. Beispiele hierfür finden sich im konservativen Islam, im ultraorthodoxen Judentum sowie in bestimmten christlichen Sekten.
Das verfassungsrechtlich garantierte Grundrecht der Religionsfreiheit beinhaltet das Recht des Einzelnen sowie das Recht von Religionsgemeinschaften und sonstigen religiösen Verei-nigungen, einen „freiheitlichen Absolutheitsanspruch“ zu vertreten. Dies schließt ausdrücklich das Werben für die eigene Gemeinschaft und ihre Lehren mit dem Ziel der Gewinnung neuer Mitglieder oder Anhänger ein, soweit dadurch die Grundrechte und sonstigen gesetzlichen Schutzrechte Andersgläubiger und Andersdenkender nicht einschränkt werden.
Das Vertreten eines „totalitären Absolutheitsanspruchs“ durch Religionsgemeinschaften oder sonstige religiöse Vereinigungen überschreitet hingegen die Grenzen der Religionsfreiheit. Der „totalitäre Absolutheitsanspruch“ einer Religion oder einer Religionsgemeinschaft zielt im Ergebnis auf eine Abschaffung oder zumindest eine wesentliche Einschränkung der durch die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes garantierten Grundrechte und richtet sich darüber hinaus gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung insgesamt.
Religionen und Religionsgemeinschaften, die einen „totalitären Absolutheitsanspruch“ vertre-ten, dürfen sich nicht auf das Grundrecht der Religionsfreiheit berufen können. Gleicherma-ßen ist das Recht auf jegliche Art der Gewinnung neuer Mitglieder oder Anhänger durch sol-che Gemeinschaften oder Vereinigungen strikt abzulehnen.
In Bezug auf den einzelnen Menschen schützt die Religionsfreiheit hingegen auch die Glau-bens- und Gewissensfreiheit von Personen, die Anhänger einer Religion mit „totalitären Abso-lutheitsanspruch“ sind. Man kann in einen einzelnen Menschen nicht hineinsehen. Auch ist jegliche Art von „Gesinnungsschnüffelei“ abzulehnen. Die Grenzen der Religionsfreiheit sind jedoch dort überschritten, wo nicht Einzelpersonen als Ausdruck ihrer individuellen Überzeu-gung, sondern Religionsgemeinschaften, religiöse Verbände oder religiöse Vereinigungen als Zusammenschlüsse unter Berufung auf die Religionsfreiheit politische und gesellschaftliche Ziele propagieren, die auf eine Abschaffung oder wesentliche Einschränkung der verfas-sungsmäßigen freiheitlichen Grundordnung und der durch sie garantierten unveräußerlichen Menschenrechte und sonstigen Grundrechte hinaus laufen.
Die Grenzen der Religionsfreiheit sind nicht erst dann überschritten, wenn Religionen oder Religionsgemeinschaften und deren Vertreter zur Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele aufrufen. Die Grenzen der Religionsfreiheit sind bereits überschritten, wenn Religions-gemeinschaften, religiöse Verbände oder religiöse Vereinigungen einen „totalitären Absolut-heitsanspruch“ vertreten und dafür werben, und dabei lediglich auf die Ausübung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihres „totalitären Absolutheitsanspruchs“ verzichten. Gerade das historische Beispiel der „legalen Machtergreifung“ durch Adolf Hitler und die Nationalsozia-listen muss uns hier eine Lehre sein.
Soweit Religionsgemeinschaften sowie religiöse Verbände und Vereinigungen die Grenzen der Religionsfreiheit überschreiten, tritt die hessische FDP für rechtliche Konsequenzen ein. Dies beinhaltet, solchen Religionsgemeinschaften, Verbänden und Vereinigungen jeglichen Schutz und jegliche Privilegien, die auf dem Grundrecht der Religionsfreiheit basieren, zu verweigern bzw. zu entziehen und sie notfalls auch zu verbieten.
Das Grundrecht der Religionsfreit beinhaltet ebenso das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dazu gehört auch das Recht, Religionsstifter und „heilige Bücher“ von Religionsgemeinschaf-ten sowie diese Religionsgemeinschaften selbst offen und deutlich kritisieren zu können. Es ist eine Aufgabe des freiheitlich-demokratischen Staates, dieses Recht gegen alle Angriffe zu schützen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die positive wie die negative Religions-freiheit finden allerdings ihre Grenzen dort, wo die Würde des einzelnen Menschen herabge-setzt wird und wo sie Straftatbestände wie z.B. vorsätzliche Volksverhetzung, üble Nachrede und Beleidigung („Diffamierung“) erfüllt.
Das Rechtssystem eines freiheitlich-demokratischen Staates kann und darf die verbindliche Anwendung religiösen Rechts nicht tolerieren, wenn und soweit dieses religiöse Recht der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zuwiderläuft und damit die Schutzwirkung des Rechtsstaats und der Rechtsordnung teilweise oder vollständig ausschließt. Als Beispiele sind hier die Verheiratung von Minderjährigen sowie Zwangsheiraten im Allgemeinen ge-nannt. Weitere Beispiele sind die Behandlung von Frauen als Personen mit minderen Rechten, aber auch Phänomene wie das Auftreten einer selbst ernannten „Religionspolizei“. Mit zu nennen ist hier auch eine in der Rechtsprechung bereits vorgekommene Strafminderung für religiös begründete Fälle von „Ehrenmord“ mit dem Hinweis auf fehlendes Unrechtsbewusst-sein. Das Grundrecht der Religionsfreiheit schafft keinen Raum, in dem das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland keine Anwendung mehr finden. Es kann und darf auch für niemand „Rabatt“ auf die Verfassung und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland gewährt werden. Der Grundsatz der Gleichheit jedes Menschen vor dem Gesetz ist unbedingt zu wahren.
Allerdings umfasst das Grundrecht der Religionsfreiheit auch das grundsätzliche Recht von Religionsgemeinschaften, ihre inneren Angelegenheiten autonom zu regeln. Das Recht auf Selbstverwaltung der Religionsgemeinschaften ist zu schützen, soweit sich diese Religions-gemeinschaften in den Grenzen der Religionsfreiheit bewegen. Dies beinhaltet das Recht, für die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft das Eintreten für bestimmte Glaubens-grundsätze verpflichtend zu machen und bei Missachtung Personen auch aus einer Religions-gemeinschaft ausschließen zu können. Was für politische Parteien und für viele Vereine gilt, muss auch Religionsgemeinschaften zugestanden werden. Ebenso gehört dazu das Recht, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder zur eigenen Religionsgemeinschaft sowie eine festgelegten Grundsätzen entsprechende persönliche Lebensführung zur Voraussetzung dafür zu machen, bestimmte Ämter in der Religionsgemeinschaft zu begleiten oder Arbeits-verhältnisse mit der Religionsgemeinschaft oder ihren Untergliederungen einzugehen oder beizubehalten.
Einschränkungen des Rechts der Selbstverwaltung müssen jedoch erlaubt sein, soweit Religi-onsgemeinschaften als Träger von Einrichtungen agieren, die öffentliche Aufgaben wahrneh-men, die auch Einrichtungen in der Trägerschaft von anderen Religionsgemeinschaften sowie andere private oder öffentliche Träger unterhalten (z.B. Krankenhäuser und Kindergärten). Hier hat eine Interessenabwägung zu erfolgen. Zum einen geht es um das legitime Interesse der Religionsgemeinschaft, in der Öffentlichkeit auch in ihrer Eigenschaft als Träger solcher Einrichtungen als Religionsgemeinschaft mit einer bestimmten Prägung wahrgenommen zu werden. Zum anderen geht es um die Rechte von Arbeitnehmern, wie sie sich aus allgemeinen Rechtsgrundlagen, z.B. aus den Bestimmungen des allgemeinen Arbeitsrechts, ergeben. Wir sehen deshalb Änderungsbedarf im kirchlichen Arbeitsrecht.
Die hessische FDP bekennt sich seit vielen Jahren zur „hinkenden Trennung“ zwischen Staat und Religion in der Bundesrepublik Deutschland. „Hinkender Trennung“ bezeichnet eine Si-tuation, in der sich ein Staat zwar gegenüber allen Religionen neutral verhält, wo aber keine totale Trennung von Staat und Kirche erfolgt ist. Es gibt Konkordate und Staatsverträge mit den Kirchen; es gibt die Kirchensteuer, es gibt Staatsleistungen an Kirchen. Weiterhin gibt es die Militärseelsorge, und viele Kirchen sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts kon-stituiert. Die entsprechenden Passagen aus der Weimarer Reichsverfassung wurden bewusst in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übernommen.
Die „hinkende Trennung“ zwischen Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland muss allerdings zumindest in Teilbereichen berücksichtigen, dass unsere Gesellschaft nicht mehr so religiös homogen ist, wie dies zu der Zeit war, als die Väter der Weimarer Reichsver-fassung diese Grundsätze verfassungsrechtlich festschrieben, und dass inzwischen ein erhebli-cher Teil der Menschen in Deutschland keiner der großen Kirchen mehr angehört. Zu überprü-fen ist daher z.B. die Institution des Kirchenasyls. Zu überprüfen sind auch die vollständige oder teilweise Übernahme von Personalkosten für Personen in kirchlichen Ämtern durch deut-sche Gebietskörperschaften. Zu prüfen ist auch, inwieweit staatliche Zahlungen an Religions-gemeinschaften, die beispielsweise auf dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803, dem preußischen Staatskirchenrecht oder den ostdeutschen Verträgen zwischen Staat und Kirchen seit 1989 basieren, abgelöst werden können.
Dem Grundsatz der Religionsfreiheit widerspricht die rechtliche oder faktische Kontrolle von Religionsgemeinschaften, religiösen Verbänden und sonstigen religiösen Vereinigungen durch ausländische Staaten oder deren Behörden. Dies beinhaltet auch die wirtschaftliche Abhän-gigkeit von diesen ausländischen Staaten oder deren Behörden. Beispielhaft sei hier die fakti-sche Kontrolle der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. („Diyanet Isleri Türk Islam Birligi“, kurz „DITIB“) durch die türkische Religionsbehörde Diyanet, die direkt dem türkischen Ministerpräsidenten unterstellt ist, genannt. Die Diyanet bezahlt derzeit rd. 1.000 Imame, die sie nach Deutschland in DITIB-Moscheegemeinden entsandt hat. Ferner schreibt die Diyanet sogar vor, worüber in den Freitagspredigten jeweils gepredigt werden soll. Vorsitzender der DITIB ist immer ein türkischer Botschaftsrat.
Die hessische FDP lehnt eine Beleihung solcher Organisationen mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben ab. Wo eine solche Beleihung bereits stattgefunden hat, sind die betreffenden Or-ganisationen aufzufordern, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die bestehenden Abhängigkeiten zu beseitigen. Dazu ist ihnen eine angemessene Frist einzuräumen.
Nicht gemeint ist hingegen eine lediglich formale Abhängigkeit wie im Fall der anglikanischen Kirche, deren formelles Oberhaupt die Königin von England ist, die aber keinen tatsächlichen Einfluss auf die deutschen anglikanischen Kirchen ausübt.